Schutzengel sind bunt

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 I. Kapitel

„Ich nehme dich an als meine Frau und verspreche dir die
Treue in guten und bösen Tagen, in Gesundheit und
Krankheit. Ich will dich lieben, achten und ehren, solange
ich lebe.“ Sally erinnerte sich wieder an die Worte, die
Michael, ihr Mann damals gesprochen hatte. Sie hörte
regelrecht die Stille, die in diesem Augenblick alle
Anwesenden umgab. Sie lauschte in ihrer Erinnerung
dem Atem ihres Mannes, erspürte wieder das Gefühl, als
er ihr den Ring überstreifte und roch intensiv den Duft
von Weihrauch, der die Kirche ausfüllte, in der sie
damals geheiratet hatten.
In Gedanken an diesen Moment versunken, blätterte
Sally im Fotoalbum von ihrer Hochzeit. Sie war gerade
beim Staubwischen. Das Fotoalbum stand schon fast
achtzehn Jahre an derselben Stelle im Schrank im
Wohnzimmer. Heute hatte sie Lust bekommen, wieder
darin herumzublättern. […]
Mit einer raschen Handbewegung strich sie sich die
dunkelbraune Haarsträhne aus dem Gesicht. Es war
schön wieder in den alten Erinnerungen zu schwelgen.
Sie liebte das. Zum Betrachten des Albums hatte sie sich
auf die Couch im Wohnzimmer gesetzt. Schon wieder
schob sie sich diese eine Strähne nach hinten. Ihre langen,
glatten Haare hatte sie zu einem Pferdeschwanz gebunden.
Das fand sie beim Staubwischen viel praktischer.
Nur diese eine Strähne wollte nicht an ihrer Stelle bleiben
und schob sich immer wieder in ihr Gesicht. [...]
„Hallo Mami, na, beim Saubermachen?“ fragte Julie, ihre
siebzehnjährige Tochter. Sie hatte noch knapp zwei Jahre
bis zum Abitur.
Sie war ebenso wie ihre Mutter sportlich durchtrainiert
und schlank. Auch die langen, glatten, dunkelbraunen
Haare hatte sie von ihrer Mutter. Von ihrem Vater Michael
hatte sie die dunklen Augen und das spitzbübische Lächeln,
mit dem sie ihre Mutter gerne anlachte. Michael war kaum zu
Hause. Im Grunde sah sie ihn nur an den Wochenenden.
Er arbeitete gerne bei dieser Immobilienfirma, bei der er
seit fast fünfzehn Jahre angestellt war. [...]
                                            
                                   ***
 
„Oh das ist gut. Ja, weiter so.“ stöhnte Michael. Er hatte
sich von Norah überreden lassen, in ihre Wohnung zu
kommen. Dort hatte sie ihn nach allen Regeln der Kunst
verführt. Und jetzt waren sie im Bett gelandet. Aber
Norah war auch wirklich gut.
„Ohh.“, Michael stöhnte laut auf. Er war auf dem Weg
zum Höhepunkt. Norah krallte sich an ihm fest.
„Oh, ja, Wahnsinn. Ist das gut.“ presste sie hervor und
drückte ihn angespannt an sich. Wie verknäult hingen sie
aneinander und genossen ihren Höhepunkt, der sie nach-
einander besuchte. Außer Atem und glücklich erschöpft
fielen sie in ihre Kissen.
„Das war wunderbar, Michael.“
„Fand ich auch.“
„Machen wir das jetzt öfter?“ fragte Norah einfach
weiter. Im Grunde ging das alles von ihr aus. Sie wollte
Michael haben. Ihr war Sally egal. Über sie dachte sie
gar nicht nach. Sally würde keine Gefahr für sie darstellen,
glaubte Norah. Sie kannten sich schon lange. Die beiden
hatten sie während einer Ausstellung angesprochen.
Damals dachte Sally, sie wäre die Galeriebesitzerin. Das war
ein Missverständnis gewesen. Aber weil sie sich sympathisch
fanden, setzten sie sich nach der Ausstellung in einem Restaurant
zusammen, um sich besser kennen zu lernen. Das war inzwischen
schon fast fünfzehn Jahre her. So lange kannten sie sich schon.
„Nein.“ Das war alles. Mehr sagte er nicht.
„Wieso nicht?“ bohrte Norah nach.
„Ich habe keine Lust jetzt alles zu zerreden. Es war schön
mit dir. Es hat mir wirklich gut gefallen. Aber ich muß
jetzt gehen. Hey Norah, sei mir nicht böse.“ versuchte
Michael sie zu beruhigen.
Norah schmollte.

„Gehst du jetzt etwa nach Hause? Zu Sally?“ fragte
sie, obwohl sie die Antwort eigentlich schon wusste.
„Ja, natürlich, was denkst du denn? Das war ein Ausrutscher
und wird nie wieder vorkommen. Ich muss jetzt los.
Er hatte sich entschieden. Sally war seine Frau und er liebte sie.
Norah hatte es darauf angelegt, ihn verführt und zum Sex gedrängt. Er war nicht scharf darauf das zu wiederholen. So konnte er sich die Situation noch selbst verzeihen. Aber noch einmal Sex mit Norah wäre kein harmloser Seitensprung mehr. Also suchte
er seine Sachen zusammen und setzte sich im Bett auf.
„Norah – bis dann. Machs gut.“ so verabschiedete er sich
von ihr und ging einfach. Er ließ sie, ohne sich noch
einmal umzudrehen, im Bett alleine zurück.
„Ein Ausrutscher!“ Norah sprach das Wort ganz gedehnt
aus. Sie zog es wie Kaugummi. Ich bin also ein
Ausrutscher, dachte sie wütend. Sie wollte für Michael
nicht nur ein Ausrutscher gewesen sein. Sie wollte ihn als
Mann, als ihren Mann. Und dafür würde sie schon sorgen.
Norah wusste, dass Sally sehr eifersüchtig war. Bei einer
eifersüchtigen Frau ist es noch viel leichter, ihr den Mann
auszuspannen, überlegte sie genüsslich und drehte sich
noch einmal schläfrig auf die Seite. Bald, liebe Sally, wird
es dir Leid tun, das du mir Michael nicht früher gegönnt hast.
Er wird dich verlassen. Es ist nur noch eine Frage der Zeit,
plante sie gemein.

                                   ***
                                             
Einige Tage später fuhr Sally ihre Tochter mit dem Auto
zu einer Freundin.
„He, das war doch Michael? – Julie! Das war doch Papa,
eben? Hast du ihn nicht auch gesehen?“ wiederholte
Sally ihre Frage. Sie hatte nur einen kurzen Blick auf das
Pärchen werfen können, das dort nebeneinander die
Hauptstraße entlang lief.
„Das gibt es doch nicht!Julie – die laufen händchenhaltend!
He, schau doch!“ Sally glaubte ihren Augen nicht zu trauen.
Vielleicht hatte sie sich auch nur getäuscht? Sie musste
sich wieder auf das Autofahren konzentrieren.
Nein, bestätigte sie sich selbst. Sie hatte deutlich gesehen,
dass die beiden händchenhaltend gegangen waren.
Damit schob sie ihre zweifelnden Gedanken endgültig beiseite.
Die Frau neben ihm war Norah, eine gemeinsame Bekannte.
Warum ausgerechnet Norah? ging ihr nur durch den
Kopf. Noch keine Wut. Nur diese Frage, warum Norah?
Endlich war auch Julie auf das Pärchen auf dem Gehweg
aufmerksam geworden. Sie reckte ihren Kopf aus dem Auto-
fenster und erhaschte gerade noch einen letzten Blick auf die
beiden, bevor sie um die Ecke bogen.
„Ja, stimmt. Das war Papa. Und Norah. Was macht die
denn mit Papa dort? Um die Uhrzeit.“ stellte sie fast gelangweilt
fest und vertiefte sich dann wieder in ihre Illustrierte. [...]
Vor lauter Nachdenken über Michael und Norah,
wäre Sally beinahe ihrem Vordermann aufgefahren.
Abrupt bremste sie ab. Sie musste sich unbedingt auf den
Straßenverkehr konzentrieren. Wütend über den Beinahe-
unfall verdrängte sie die aufkommende Eifersucht.
Aber es ging nicht – sie hatte immer wieder dieses Bild
vor Augen – von ihrem Mann, der mit ihrer gemeinsamen
Bekannten händchenhaltend die Straße entlang
lief. Dann würde Michael ihr einiges zu erklären haben,
heute Abend, wenn er nach Hause käme, dachte sie sich.
Sie war schon richtig gespannt.

                     ***                                   

Zu Hause blinkte schon der Anrufbeantworter. Neugierig
drückte Sally die Abspieltaste.
„Ja, hey, hier ist Michael. Ich komme heute spät nach
Hause. Mach dir keine Sorgen. Ich habe viel zu tun und
gehe nachher noch mit meinem Chef zum Spanier Essen.
Du weißt ja, bei Antonio. Warte deshalb bitte nicht auf
mich. Es wird spät. Schlafe gut. Und noch ein Extraküsschen
für Julie. Ciao.“
„Was soll das denn? Ich habe euch doch gesehen!“ schrie
Sally verärgert über diese Lüge den Anrufbeantworter an.
So etwas konnte sie überhaupt nicht ausstehen. Dass ihr
Mann sie eiskalt anlog. Das war eine Frechheit! Warum
schob Michael seinen Chef vor und erzählte nicht, dass er
mit Norah unterwegs war? Hatte er etwas zu verheimlichen?
„Einen Moment – das haben wir gleich.“ sprach sie laut
mit sich selbst. Dann griff sie nach dem Mobiltelefon und
wählte Michaels Nummer. Jetzt war sie aber sehr neugierig,
was er sagen würde.
Er ging nicht ans Telefon. Sie hörte nur die Stimme der
Mailbox. Wütend darüber, ihn nicht fragen zu können,
legte sie auf. Jetzt musste sie wohl warten, bis er nach
Hause käme.
Sally setzte sich in ihren Lieblingssessel. Jetzt, wo sie Julie
zu ihrer Freundin gebracht hatte und sie dieses Bild von
Norah und Michael nicht mehr aus dem Gedächtnis bekam,
wurde sie gereizt. Um sich abzulenken, schaltete sie den
Fernseher an. Es lief nichts Besonderes. Sie zappte einige
Kanäle durch und bekam noch schlechtere Laune. Nichts
interessierte sie richtig. Also machte sie den Fernseher
wieder aus. Immer noch missmutig saß sie einige Minuten
regungslos in ihrem Sessel. Sie wurde immer wütender,
je länger sie über diese offensichtliche Lüge
nachdachte und hatte gleichzeitig große Angst vor der
Wahrheit. Fiese Zweifel machten sich in ihr breit. Hatte
Michael ein Verhältnis mit Norah? Könnte es denn so sein?
Wenn sie ehrlich über ihre Ehe nachdachte, wusste sie,
dass es schon länger nicht mehr so gut lief. Langeweile
und Gleichgültigkeit hatten sich in ihrer Ehe breit gemacht.
Und Sex hatten sie auch schon lange nicht mehr gehabt,
trotz ihrer guten Figur.
Michael schien dieser trostlose Zustand nicht aufgefallen
zu sein – zumindest hatte er nichts gesagt. Sie hatte auch
nichts gesagt. Sie hatten ihre Probleme einfach weg-
geschwiegen. Dass das nicht richtig war, wusste sie
auch. Aber vielleicht war es ja auch gar nicht so?
Vielleicht hatte dieses Händchenhalten gar nichts zu
bedeuten? Norah hatte ständig neue Liebhaber.
Wahrscheinlich hatte ihr letzter Liebhaber sie verlassen
und sie brauchte Trost. Aber warum heulte sie sich dann
gerade bei Michael aus und nicht bei ihr? Die Gedanken
quälten sie.
Sie holte sich noch einmal das Telefon und rief ihre
Freundin Bea an.
„Du hör mal Bea, du musst mir helfen. Ich weiß einfach
nicht weiter. Ich glaube, Michael hat was mit Norah.“
Jetzt war es draußen. Sally hatte eigentlich nur einen
Verdacht, aber er verstärkte sich immer mehr, je länger
sie darüber nachdachte.
„Sally, wie kommst du darauf? Komm, erzähl, was ist
passiert?“
Sie war froh, dass Bea ihr jetzt keine Vorwürfe machte.
Bea wusste von ihrer Eifersucht. Sie hatte im Laufe der
Zeit schon zwei Vorfälle miterlebt bei denen Sally
Michael mit ihrer Eifersucht blamiert hatte. Und jedes
Mal war Sally im Unrecht gewesen. Mit ihrer Eifersucht
würde sie eines Tages ihre Ehe zerstören, hatte ihr Bea
damals prophezeit. Jetzt hatte sie Angst davor, dass Beas
Vorhersage wahr werden könnte.
„Ich habe die beiden heute Abend händchenhaltend die
Hauptstraße entlang gehen sehen. Ich fuhr gerade Julie zu
einer Schulfreundin und ich musste sowieso noch zur
Bank.....“ Sally kamen die Tränen, obwohl sie noch
keinen Beweis für ihren Verdacht hatte.
Weinend schilderte sie Bea am Telefon die Situation. Je
mehr sie davon erzählte, desto schlimmer wurde ihre
Angst Michael zu verlieren. Diese Zweifel zerfraßen
immer mehr ihr Vertrauen zu ihm.
„Weißt du, Sally, du wirst es nur herausfinden, wenn du
dorthin fährst.“ versuchte ihr Bea zu helfen.
„Wohin? Ich weiß ja nicht einmal, wo die beiden hingegangen
sind?“
„Versuche es bei Norah zu Hause. Wenn du dort keinen
antriffst, musst du wohl auf Michael warten, bis er nach
Hause kommt.“
„Ausgerechnet heute, wo  ich Julie zu einer Freundin gefahren
habe und den ganzen Abend alleine bin. Ich weiß gar nicht,
ob ich es wirklich wissen will.“
„Natürlich willst du es wissen. Glaube mir, du wirst mit
dieser Ungewissheit den Abend nicht überstehen.“

                                       ***

Gleich gegenüber von Norahs Haus fand sie einen
Parkplatz. Nach der Scheidung hatte Norah das Ein-
familienhaus behalten können. Sie hatte genug Geld von
ihren Eltern geerbt, um ihren geschiedenen Mann aus-
zuzahlen. So gesehen, ging es Norah richtig gut. Nur mit
der Liebe klappte es bei ihr nicht so recht. Sie hatte
eigentlich immer wieder neue Liebhaber. Ihr Mann Michael
sollte nicht ein weiterer Liebhaber sein, legte sich Sally zurecht.
Mit einer ordentlichen Portion Wut im Bauch sprang sie die
vier Stufen bis zur Haustür hoch. Norah würde ihr einiges
zu erklären haben – warum musste sie sich gerade
Michael als neues Opfer aussuchen? Sie könnte doch
genug andere Männer verschleißen und Michael einfach
in Ruhe lassen. Dieses Biest, dieses Luder! Als ob ihr
Lebenswandel nicht schon schlimm genug wäre, musste
sie jetzt auch noch eine glückliche Ehe kaputtmachen!
Sally türmte immer mehr Wutstückchen aufeinander. Sie
würde Norah schon zeigen, zu wem Michael gehörte.
Es war beeindruckend, wie schnell Sally in der kurzen
Zeit vom Auto bis zu Norahs Haustür genügend Be-
schimpfungsmaterial zusammengetragen hatte.
Michael öffnete die Tür.
„Sally?“ fragte er sichtlich überrascht und redete gleich
weiter.
„Was machst du denn hier?“ sagte er in einem sehr
vorwurfsvollen Ton. Sally fühlte sich gedemütigt.
Dieser Ton. Warum redete Michael so mit ihr – in so
einem Ton? sauste ihr durch den Kopf.
„Dasselbe könnte ich dich fragen. Was machst du hier
bei Norah und warum hast du mich belogen? Was sollte
der Spruch auf dem Anrufbeantworter – du seiest mit
deinem Chef unterwegs? Ich habe euch gesehen. Und Julie
auch. Ihr seid auf der Straße händchenhaltend entlanggelaufen.
Und jetzt treffe ich dich hier. Du bist das Allerletzte!
Und Norah? Sie hat dich bestimmt verführt. Ja? Stimmt das?
Ihr habt etwas miteinander?“ Sally hörte gar nicht mehr auf.
Sie ließ ihre Worte einfach hinaustreiben. Jedes Wort, das
draußen war, belastete sie nicht mehr.
„Bist du jetzt fertig?“ fragte er verärgert.
Das regte Sally noch mehr auf.
„Was soll denn das – Michael? Wie bist du denn drauf?
Willst du mir nicht erst einmal eine Antwort geben?“
Sally wollte ihm gar nicht mehr zuhören. Wie er sich ihr
gegenüber benahm, fand sie unmöglich.
„Sally, komm – lass es mich erklären.“ versuchte Michael sie
zu beruhigen.
„Was gibt es da zu erklären? Komm, sag schon! Du
betrügst mich, stimmts?“ versuchte Sally Michael zu
provozieren.
„Sally, lass uns in Ruhe reden.“ setzte Michael an.
„Ich bin ruhig!“ unterbrach ihn Sally.
„Du bist total aufgeregt. Ich kenne dich doch – alles was
ich jetzt sage, bekommst du in den falschen Hals. Weißt
du, am besten setzt du dich jetzt ins Auto. Ich komme
gleich nach und erkläre dir alles. Okay?“
Für Sally war nichts okay. Sie fühlte sich von Michael
mies behandelt. Sie fühlte sich wie in Schaumstoff eingepackt.
Was wollte er von ihr? Dass sie sich jetzt in ihr Auto setzte?
Er würde nachkommen und ihr alles erklären? Das war doch
nicht zu fassen! Wie konnte er so lieblos ihr gegenüber sein?
Genau, sie fühlte sich lieblos behandelt. Als ob es nicht schon
schlimm genug war, dass ihr Mann bei Norah war, anstatt bei ihr
zu Hause. Und er hatte sie belogen – er wäre mit seinem
Chef unterwegs. Jetzt sollte sie sich ruhig ins Auto setzen.
Das konnte nicht sein Ernst sein! Sally konnte nicht antworten.
Ihre Wut war weg – stattdessen umspannte sie ein Mixgefühl
von Traurigkeit und Enttäuschung.
Weil sie kein Wort herausbekam, drehte sie sich um und ging.
Das war nun das Ende nach achtzehn Jahren Ehe.
Betäubt ging Sally auf ihr Auto zu. Sie konnte keinen klaren
Gedanken mehr fassen.

                                    ***

Sally wachte auf. Sie fühlte sich wie zerschlagen.
Wo war sie bloß? waren ihre ersten fragenden Gedanken.
„Willkommen in der Kosmetikabteilung.“ sprach eine
warme angenehme Stimme zu ihr. Eine Stimme zum Ein-
kuscheln.
„Wo bitte? Was? Wo bin ich? Kosmetikabteilung?“ fragte
sie ungläubig.
„Du bist tot. Und jeder Tote landet erst einmal in der
Kosmetikabteilung.“ klärte sie die Stimme auf.
„Du kannst ruhig aufstehen. Du musst nicht liegen.“
redete die Stimme weiter. Sally richtete sich auf.
Sie hatte auf einer Sanitätsbahre gelegen. Sie hockte
halb aufgerichtet auf dieser Bahre, die auf dem Fußboden
in einem hell erleuchteten Raum lag.
„Ich bin tot?“ wiederholte sie ungläubig und schaute sich
um. Neben ihr stand ein alter Mann mit einem grauen
Haarkranz und einer alten Hornbrille auf der Nase, wie
sie schon längst nicht mehr modern war und lächelte sie
an.
„Das ist ein Witz? Nicht wahr? Ich bin nicht tot, sondern
gesund und im Krankenhaus!“ kam es jetzt trotzig aus
Sally heraus.
„Liebe Sally, so wie du reagieren alle, die gerade zu uns
in den Himmel gekommen sind. Du wirst dich daran ge-
wöhnen, dass du tot bist. Und jetzt steh bitte mal auf.
Ich möchte dich untersuchen.“ ermunterte sie dieser alte
Mann mit seiner Kuschelstimme.
„Das darf doch nicht wahr sein! Ich bin nicht tot! Ich lebe
noch.“ erwiderte Sally jetzt sehr heftig.
„Steh bitte auf. Ich möchte dich untersuchen. Danach
kannst du dich gerne ein wenig umsehen, bevor du dein Erst-
gespräch hast. Wenn du willst, zeige ich dir hier alles.“ erzählte
der alte Mann mit sanfter Stimme, als ob nichts vorgefallen wäre.
Wenn er nicht so eine angenehme Stimme gehabt hätte,
hätte Sally ihn liebendgerne angebrüllt oder sogar angegriffen.
Sie war sauer. Wie konnte sie tot sein? fragte sie sich. Sie
war doch nur umgekippt auf der Straße. Ja, genau, jetzt
erinnerte sie sich wieder. Sie hatte plötzlich so einen
fürchterlich stechenden Schmerz im Kopf gehabt, wie
einen starken Migräneschmerz und danach war sie
zusammengeklappt. Ihr Kreislauf vermutlich. Sie hatte ja
noch nicht zu Abend gegessen.
„Ich muß jetzt los.“ sprudelte es aus ihr hervor. Es
musste schon spät sein. Vielleicht war auch schon ein
ganzer Tag vergangen? Hier war es auf jeden Fall sehr hell.
Taghell. Inzwischen war sie vom Fußboden aufgestanden
und hatte sich von diesem alten Mann mit der sanften
Kuschelstimme untersuchen lassen. Die Untersuchung
war eigenartig, wie eigentlich alles in diesem Raum. […]
„He, das kitzelt.“ lachte Sally laut auf, obwohl ihr
überhaupt nicht danach zumute war. Der alte Herr hatte
sie während seiner Untersuchung überall abgetastet und
genau angeschaut. Als ob er etwas suchen würde, dachte
sie sich.
„So, du bist in Ordnung. Du hattest einen Gehirnschlag.
Da ist nichts weiter zu beheben.“ sagte er und legte sein
Abhörgerät beiseite, dass er zwar die ganze Zeit um den Hals
getragen, aber gar nicht benutzt hatte.
„Einen Gehirnschlag. Ja, klar, ich hatte einen Gehirnschlag.“
frotzelte Sally übermütig. Sie glaubte dem alten Herren
sowieso kein Wort.
„Ich muß jetzt wirklich los.“ meinte sie schnippisch
und war froh, dass er sie gehen ließ.
„Soll ich dich ein wenig herumführen?“ fragte der
Arzt wohlmeinend.
„Nein, schon gut. Ich finde den Weg schon alleine.“ ent-
gegnete sie frech und spazierte hochnäsig aus diesem
sonderbaren Raum. Sie war so von sich überzeugt, nicht tot
zu sein, dass sie sich noch nicht einmal bei dem alten Herrn
für die Untersuchung bedankte, geschweige denn sich ver-
abschiedete. Sie ging einfach.
So schwierig würde es schon nicht sein, von diesem komischen
Arzt nach Hause zu finden. Sie könnte ja einen Taxifahrer fragen.
Aber erst einmal müsste sie hier raus, dachte sie sich und lief
einen hell leuchtenden Gang entlang. Irgendwie musste sie doch
aus diesem Gebäude rauskommen. Sobald sie wieder auf der
Straße wäre, würde sie sich schon zurechtfinden.
Man hatte sie hoffentlich nicht in eine andere Stadt gebracht.
Gleich würde bestimmt ein Ausgang oder wenigstens ein
Treppenhausaufgang vor ihr auftauchen, versuchte ihr Verstand
sie zu beruhigen. Da hörte sie Stimmen, die aus einem Raum
kamen. Vorsichtig spähte sie durch die nicht ganz verschlossene Tür.
Leider konnte sie nichts Richtiges erkennen. Es sah wie ein Büro aus.
Wo war sie nur? fragte sie sich und schob ganz vorsichtig die Tür
noch ein wenig auf. Schließlich wollte sie genau sehen, was dort
drinnen vor sich ging, ohne selbst entdeckt zu werden. Vielleicht ein
Büro der Krankenhausverwaltung? Dann war sie also doch in die falsche
Richtung gegangen. Mal sehen. Vielleicht könnte sie verstehen, was
dort gesprochen wurde? Ganz nahe drückte sich Sally an die Tür.
Durch den verbreiterten Türspalt konnte sie nun richtig gut in diesen
Raum sehen. Es schien tatsächlich ein Büro zu sein. Da saßen Menschen
an Computerarbeitsplätzen und arbeiteten in einer positiven Atmosphäre,
die sie spüren konnte. Manche arbeiteten stumm und schienen ganz
konzentriert zu sein. Andere drückten auf irgendwelchen Displays herum
und wieder anderen schien die Computerarbeit egal zu sein. Sie unterhielten
sich angeregt.
„Hast du Bescheid gegeben?“ rief gerade in diesem
Moment eine junge Frau zu einem etwas untersetzten,
älteren Mann hinüber.
„Ja, er kommt gleich, hat er gesagt.“ rief der Mann
zurück. Noch ehe sich Sally darauf einen Reim machen
konnte, berührte sie jemand an der Schulter.[…]